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Pro Kinderarbeit

Plädoyer für kontraintuitives Sozialunternehmertum

“Muss nur noch kurz die Welt retten” singt der deutsche Singer-Songwriter Tim Bendzko in seinem gleichnamigen Lied, das im Jahr 2011 die europäischen Charts eroberte. Nur noch kurz die Welt retten, es ist doch so simpel. Wir alle wissen längst, wie das geht. Denn im industrialisierten, gebildeten, entwickelten Deutschland wachsen wir mit diesem immer gleichen Mantra auf: Wie leicht es doch scheint, alles zum Guten wenden zu können. Würden wir nur endlich alle Waffen entsorgen, den Welthunger beseitigen, weniger und nachhaltiger konsumieren und auf regenerative Energien umsteigen, dann würde es doch eigentlich allen Menschen und unserem Planeten gut gehen, nicht wahr?

Dies ist ein Bildkommentar (eineTolleAgentur, Horst Franzen)

Doch ebenso zweideutig wie Bendzkos lyrisches Ich, das fest daran glaubt, etwas Gutes zu tun, während es zugleich scheinbar zu stagnieren scheint (“Ich wär‘ so gern dabei gewesen, doch ich hab viel zu viel zu tun, lass uns später weiterreden. Da draußen brauchen sie mich jetzt, die Situation wird unterschätzt und vielleicht hängt unser Leben davon ab.”) ergeht es auch dem geneigten Westeuropäer. Denn ganz so einfach ist es wohl doch nicht, kurz die Welt zu retten.

Manch einen mag das Gefühl beschleichen, weniger Wasser zu verbrauchen hilft den Dürstenden dieser Erde und der Einkauf teurer Markenkleidung den Näherinnen in Bangladesch. Und so beginnen wir, alles anders zu machen, weil wir davon überzeugt sind, dass es richtig, dass es besser ist. Wie gründen soziale Unternehmen, die dabei helfen, Wasser zu sparen. Social StartUps wie Manomama, die Mode vor Ort zu vertretbaren Löhnen produzieren, anstatt sie aus Asien zu importieren. Das nennen wir dann “radikal regional”1 und fühlen uns gut dabei. Doch was erreichen wir damit tatsächlich?

Viele Sozialunternehmen versuchen diesen Weg zu gehen. Sie suchen sich ein soziales oder umweltbezogenes Thema und bieten dann eine bessere Alternative zum schlechten Produkt am Markt an. Während diese Methode auf den ersten Blick erfolgversprechend zu sein scheint, lohnt sich die Frage nach dem Ziel: Wollen wir allein einen Markt mit Produkten, die uns ein gutes Gewissen verschaffen oder wollen wir die Situation der Menschen vor Ort verbessern?

Im Jahr 1993 diskutierte der Kongress der Vereinigten Staaten den “Child Labor Deterrence Act”, der vorsah, Unternehmen zu bestrafen, die Produkte aus Kinderarbeit importierten.

Diese Diskussion führte in Bangladesch zur vorsorglichen Entlassung von rund 50.000 Kindern und Jugendlichen, etwa 75% der zum damaligen Zeitpunkt in der bangladeschischen Textilindustrie beschäftigten Jungen und Mädchen2. Auf den ersten Blick ein Erfolg. Da ein Großteil der Familien der Kinder jedoch auf den Verdienst angewiesen war, suchten diese sich andere Beschäftigungen, teils in ausbeuterischen Verhältnissen.

Zweifellos gibt es unzählige Sozialunternehmen, die es besser machen und die nicht nur ein Wohlfühlprodukt anbieten, sondern durch ihre Arbeit zugleich auch nachhaltige Entwicklungsarbeit leisten. Doch in Grenzbereichen wie der Kinderarbeit ist dieser Weg scheinbar nicht immer der beste. Und so könnte man sich fragen: Gibt es denn einen Besseren?

Eine Antwort auf diese Frage, die möglicherweise zunächst irritieren mag, könnte etwas sein, das sich vielleicht als kontraintuitives Sozialunternehmertum bezeichnen lässt. Wenn wir beim Beispiel der Kinderarbeit bleiben, wäre ein kontraintuitives Sozialunternehmen jenes Unternehmen, das die Kinder und Jugendlichen selbst anstellt, anstatt die Produktion in Länder ohne Kinderarbeit zu verlagern. Doch warum sollte man das tun?

Insbesondere in vielen Entwicklungsländern ist Bildung der wichtigste Faktor für Wege aus der Kinderarbeit. Können die Eltern lesen und schreiben, fällt es ihnen deutlich leichter, ein existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften, sodass ihre Kinder nicht gezwungen sind, aktiv an diesem Einkommen mitzuwirken3. Doch solange Kinder durch Arbeit vom Besuch einer Schule abgehalten werden, setzt sich diese Spirale über viele Generationen fort.

Ein Ansatz, der dem Konzept des kontraintuitiven Unternehmertums entspricht, wird beispielsweise von der Entwicklungsinitiative „SEKEM“ umgesetzt. Dieses im Jahr 1977 gegründete Projekt betreibt in der ägyptischen Wüste biologisch-dynamische Landwirtschaft. Nachdem die Mitarbeit von Kindern und Jugendlichen auf den Feldern zunächst abgelehnt wurde, stellte Gründer Ibrahim Abouleish – der für seine Initiative unter anderem mit dem alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award) ausgezeichnet wurde – fest, dass diese Kinder zu anderen Plantagen weiterzogen und dort unter teils schlechten Bedingungen arbeiten mussten. So schuf die Initiative das Projekt der „Kamille-Kinder“4. Jungen und Mädchen aus der Region erhalten hier die Möglichkeit, durch wenige Stunden leichter Arbeit unter Beaufsichtigung eines Sozialarbeiters einen verhältnismäßig hohen Tageslohn zu erwirtschaften5. Bedingung für diese Anstellung ist der Besuch der zur Initiative gehörenden Waldorfschule. Auf diese Weise trägt die Initiative gleich auf mehreren Wegen zur Beseitigung sozialer Probleme bei: Die Familien der Kinder und Jugendlichen erhalten ein ausreichendes Einkommen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Gleichzeitig besuchen die Jungen und Mädchen eine Schule, sodass sie selbst zukünftig eigenständig für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen können. Ebenfalls Teil des Programms ist die Versorgung der Kinder mit den in der Initiative angebauten Bio-Lebensmitteln, sowie die hygienische und medizinische Versorgung. In den vergangenen 40 Jahren wuchs die Initiative so stark, dass zwischenzeitlich sogar eine auf Nachhaltigkeit spezialisierte Universität und ein Krankenhaus gebaut werden konnten. Die Jugendlichen haben nach ihrer Schulausbildung die Möglichkeit, in der Initiative eine Berufsausbildung zu beginnen und ebenfalls dort eine Anstellung zu finden oder die Universität zu besuchen. Auf diese Weise kann zum einen der Kreislauf, der zu Kinderarbeit führt, durchbrochen, zum anderen aber auch die Möglichkeit zum Wachstum des Sozialunternehmens generiert werden.

Das Beispiel von SEKEM zeigt, dass es hilfreich sein kann, genauer hinzuschauen. Denn obwohl uns unsere Intuition zu einer spontanen Abwehr einer solchen Idee verleitet – wer würde schon freiwillig ein Produkt mit dem Label „Produziert durch Kinderarbeit“ kaufen? – und der Erklärungsbedarf hierfür hoch ist, lohnt es sich, diesen Weg nicht gleich auszuschlagen. Möglicherweise ist er auch nicht der schnellste, sondern vielmehr ein generationenübergreifender Weg.

Und so müssen wir uns fragen: Was wollen wir eigentlich? Wollen wir den Menschen, Tieren, und Pflanzen, den Meeren und Regenwäldern, der Atmosphäre und all den anderen hilfsbedürftigen Bereichen unseres Planeten wirklich helfen oder bleiben wir mit Scheuklappen in einer Komfortzone, in der wir uns pudelwohl fühlen?

Gute Unternehmerinnen und Unternehmer sind kreativ, unkonventionell, vielleicht disruptiv. Sie suchen nach Lösungen, wo andere keine Lösungen sehen. Sie schließen Lücken. Vielleicht müssen im Besonderen die Sozialunternehmerinnen und -unternehmer unter ihnen hier nun neue Wege beschreiten, kontraintuitive Wege, um alte Probleme zu lösen und so zumindest ein bisschen die Welt zu retten. 

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